"Ramba Zamba"

von Muriel Meyer

 

Der Titel "Ramba Zamba" besitzt eine sehr lautmalerische Qualität. Die zwei Wörter reimen sich und einzeln bedeuten sie nichts. Offiziell wird Rambazamba zusammen geschrieben, genauso wie die Synonyme Remmidemmi oder Tamtam. Umgangssprachlich bedeutet das Wort Trubel, Feiern, aber auch Aufruhr oder Auseinandersetzung. Tuğba Şimşek hat sich eine Mischung aus beidem für ihre Ausstellung gewünscht: sie sollte eine Feier der Kunst für die Menschen vor Ort sowie für sich selbst als neue hinzugezogene Grafschafterin sein. Gleichzeitig hegte die Künstlerin den Wunsch, dass die Menschen in ihre Kunst eintauchen und ihrer eignen Kreativität freien Lauf lassen.

Als ich nach Neuenhaus komme, ist da Tuğba Şimşek. Sie begrüßt mich herzlich an meinem Ankunftstag als künstlerische Leitung des Kunstvereins Grafschaft Bentheim. Exakt zwei Monate vor meinem Start im Spätsommer 2020 kam Tuğba Şimşek nach Neuenhaus. Nach langem Umherziehen hat sie den gleichen Plan wie ich, in Neuenhaus etwas länger zu bleiben. Schnell war klar, dass Tuğba Şimşek die erste Atelier-auf-Zeit-Künstlerin meines Programms wird. Eine solche Künstlerin verfügt über einen starken Ortsbezug. Die Ausstellung funktioniert als Experiment und die Besucher:innen erhalten einen direkten Einblick in den Arbeitsprozess. Auf ihrer Website — zwischen ihren zahlreichen Zeichnungen in allen Formen und in ihrem Geschriebenen in Deutsch, Türkisch und Englisch sowie die Sprachen vermischt — entdecke ich die Worte "Ramba Zamba".

Tuğba Şimşek ist in erster Linie Zeichnerin und dann Künstlerin. Die Linie ist für sie Ausgangspunkt für ihre festgehaltenen Worte sowie der Kern ihrer täglichen Skizzen und Ideen. Eines ihrer Skizzenbücher, das wie ein Tagebuch funktioniert, liegt für alle Besucher:innen offen einsehbar auf dem Teeküchentisch in der Ausstellung aus. Tuğba Şimşek hält dem Risiko stand, dass Kinder in ihr Buch kritzeln oder Erwachsene ihre Gedichte kommentieren. Zurück zur Linie, die auch den Ausgangspunkt der sogenannten Blindzeichnungen für Tuğba Şimşek bildet: Die Künstlerin scannt mit ihren Augen das Beobachtungsobjekt, während sie gleichzeitig ohne auf das Papier zu schauen die charakteristischen Linien des Objekts zeichnet. So hat Tuğba Şimşek die Zeichnungen für die Linolplatten der Tierwesen angefertigt. Auf dieselbe Weise hat die Künstlerin zudem das Pflanzenaquarell "Ramadan Day 2", das den Blick aus ihrem Atelier in Neuenhaus zeigt, gemalt. Auch die skulpturalen Installationen von Tuğba Şimşek funktionieren über die Linie und die Zeichnung: das Schachbrettmuster im Kunstverein entstand zunächst aus einer Serie kleiner Zeichnungen im Skizzenbuch und funktioniert in seinem Raster sowie seiner Betonung von Schwarz und seinem Grund (hier der Betonboden) wie der Stift auf Papier. 

Eine weitere elementare Eigenschaft der Ausstellung "Ramba Zamba" den Tuğba Şimşek durch das Material Kreide bereits vorgibt, betrifft den Prozess. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang, der sich über eine gewisse Zeit erstreckt. Genauso funktioniert das Leben wie auch jede Ausstellung: ein System von Bewegungen, welche wachsen und sich entwickeln. Die Ereignisse schrumpfen, sterben oder verschwunden wie schließlich die Ausstellung "Ramba Zamba" selbst, über deren Dauer hinweg sich die Räumlichkeiten sowie einzelne Bestandteile veränderten: Die vergrößerte Zeichnung, die den Tanz zur Bodeninstallation zeigte, wuchs. Die Bodeninstallation verrückte ihre Formation vom Schachbrettmuster zum geschlossenen Rechteck, die Tönung der Quadrate wandelte sich von monochrom schwarz zu schwarzweiß- bzw. champagnerfarben pulvrig. Im Dezember hielten die "Among us" Einzug — selbstgestaltete Gamingfiguren aus Pappmaché von Schüler:innen des Gymnasiums. Als weiteres ausschlaggebendes Element prägten die Gäste fortlaufend "Ramba Zamba". Sie hinterließen verschiedene Spuren: Miriam Rose Gronwald aktivierte auf Einladung der Künstlerin die Bodeninstallation. Übersäht mit Kreidepulver vollführte die im zeitgenössischen Tanz wie im Ballett ausgebildete Tänzerin eine grazile Abfolge ruhiger wie konzentrierter sowie expressiver Bewegungen. Durch ihre Experimentierfreude mit dem für sie neuen Material Kreide wurde deren Spezifika wie Trockenheit, Pulverform, Flüchtigkeit und Abfärbekraft, dem Publikum greifbar. 

Auf dem Tisch in der Teeküche des Kunstvereins standen immer Süßigkeiten, Fruchtgummis, die keine Gelatine enthalten, für alle Besucher:innen bereit. Auch sorgte Tuğba Şimşek dafür, dass farbige Kreide, Kreidebomben sowie Stifte und Papier auslagen. Die Einladung, sich daran zu probieren, nutzten die Gäste auf vielfältige Weise. Kleinkinder hinterließen farbige Fingerabdrücke auf den schwarzen mit Tafellack bestrichenen Wandflächen, den weißen  Wänden und den Fenstern. Kindergartenkinder kritzelten ihre Namen in großen Druckbuchstaben, malten Tiere oder Herzen und warfen mit Vorliebe Kreidebomben auf die schwarzen Wände. Schulkinder ließen ihrer Fantasie freien Lauf in Wald-, Garten- und Unterwasserszenarien bis hin zu Zielscheiben für die Kreidebomben. Den Erwachsenen fielen die facettenreichstem Hinterlassenschaften auf der Vernissage ein, danach betraten vereinzelt (Berufs-)Künstler:innen den Kunstverein, die großflächige abstrakt-geometrische Farbfelder oder ein Herzlich Willkommen in arabischer Schrift hinterließen. Durch die tierischen Gäste, die Körner, Hühnerkacke, Heu, Pferdeäpfel, eine Rüdenmarkierung und Pfotenabdrücke zurückließen, erreichte die Zielgruppenerweiterung des Kunstvereins ihren bisherigen Höhepunkt: Die Amrock-Hühner, der Ex-Turnierhengst eines Vorstandsmitglieds und zwei wilde Hundemischlinge machten dem Titel "Ramba Zamba" alle Ehre.

Das Material Kreide begleitet Tuğba Şimşek bereits seit einigen Jahren, ebenso das Festhalten ihrer Entstehungsdaten bei jeder Arbeit und Skizze. Die Aufnahme der Uhrzeiten nimmt Tuğba Şimşek erst seit 2020 vor, seit dem 19. Februar 2020, dem Tag des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau, bei dem ein Mann neun Menschen ermordet hat. Die Künstlerin sitzt zum Zeitpunkt der Tat anlässlich einer Zugfahrt aufgrund des Anschlags am Hanauer Bahnhof für mehrere Stunden fest. Tuğba Şimşek beschäftigt das Attentat und damit das plötzliche Auslöschen von neun leben bis heute. Ebenso wie die Opfer vom 19. Februar 2020 hat auch Tuğba Şimşek einen Migrationshintergrund. Die Künstlerin setzt ihren inhaltlichen Fokus jedoch nicht auf diese Tatsache, sondern auf eine allgemeinere Ebene. Sie lässt der Gedanke nicht los, dass jeder Tag der letzte sein kann, die Zeit nicht zurückgedreht, nicht angehalten und nicht pausiert werden kann. 

Tuğba Şimşek setzt ihre bereits existierende Arbeit im Kunstverein Grafschaft Bentheim erneut um. Den Titel "Hanau 2020" wählte sie in Gedenken an die Opfer. In 24 Uhren hält Tuğba Şimşek ihre Arbeitszeiten in den letzten Stunden vor Ausstellungsbeginn fest, mit Kreide handgezeichnet und mit dem runden Umriss, der ihrer Armspannweite entspricht, fügen sich hier verschiedene Eigenschaften ihrer künstlerischen Praxis zusammen: Die Linie findet sich in den gezeichneten Strichen wieder. Das Unbeholfene, Kindliche, Freie spiegelt sich in der ellipsenartigen Form sowie im ephemeren Charakter der Materialwahl. Die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, zeigt Tuğba Şimşek in der Reduktion ihrer Arbeit. Die verschiedenen Uhrzeiten geraten zum Sinnbild der Weltenbummlerin. Eine weitere zutiefst menschliche und anteilnehmende Dimension erhält die Arbeit durch den Titel "Hanau 2020" und die damit verbundene persönliche Geschichte der Künstlerin, womit Tuğba Şimşek ihre politische und schließlich innere Haltung, die immer Offenheit, Austausch, aber auch Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sucht, ausdrückt. 

An dieser Stelle möchte ich mich, im Wissen um sehr viele begeisterte Besucher:innen, bei Tuğba Şimşek für "Ramba Zamba" bedanken und hoffe auf ein baldiges erneutes Trara mit viel Remmidemmi, Aha, Oh ho und Herz in petto ganz ohne Rabatz und großes Tamtam.

The time is out of joint

Antje Stoetzel-Tiedt

anlässlich der Verleihung des Förderpreises 

Frauen in künstlerischen Berufen des Zonta-Clubs Goslar St. Barbara 2020

 

 „The time is out of joint; (O cursed spite! / That ever I was born to set it right!)“ -

„Die Zeit ist aus den Fugen...“ lässt William Shakespeare Hamlet im ersten Aufzug 5.

Szene klagen. An dieses Zitat mag man denken, wenn man die Uhr beziehungsweise

die Abbildung der Installation mit zahlreichen Uhren betrachtet, die die Künstlerin

uns heute mitgebracht hat, um uns einen Eindruck von ihrem Schaffen zu geben.

Diese Uhren wirken auf den ersten Blick traditionell, mit Zeigern und Ziffernblatt,

nicht digital, nur mit Zahlen auf dem Display. Wie wir auf den zweiten Blick sehen,

sind sie aber nicht perfekt rund oder vielleicht auch perfekt oval, wie man sich die

typische Uhr vorstellen mag, sondern etwas aus der Form geraten. Ihre Außenränder

folgen keinem festen Radius, die Linie schwingt in einer groben Kreisform. Diese

Uhren sind auch nicht gleich, nicht uniform, sondern ähneln sich nur wie sich viele

Dinge oder auch Tiere ähneln, die zur gleichen Art, zur gleichen Gattung gehören.

Und doch sind sie einzigartig, jede für sich. Die Körper der Uhren hat die Künstlerin

aus MDF-Platten geschnitten, mit Tafellack bearbeitet und so einen Malgrund

geschaffen, der nach der Nutzung von Kreide für die weitere Gestaltung geradezu

verlangt. Mit Kreide sind die Zeiger aufgemalt, eine bestimmte Zeit ist eingezeichnet.

Auch die Zeiger sind nicht akribisch genau gesetzt, teils zeigen sich weiß-kreidige

Wischspuren oder undeutliche Reste von weißen Linien, die einmal Zeiger gewesen

sein könnten.

Warum Uhren? Was sind das für Zeitpunkte, die die Künstlerin hier festgehalten hat?

Sind es wichtige Momente in ihrem Leben? Die großen Wendepunkte ihrer

Biografie? Oder vielleicht kleine (?) Augenblicke, die für ihr Tun wesentlich sind?

Zeitpunkte beschäftigen Tuğba Şimşek in ihrem Werk schon länger. Sie notiert

unter anderem, wann sie zum Aufbau in die Halle kommt, wann sie anfängt zu

zeichnen, wann sie fertig ist. Es ist, als würde sie in einem Drehbuch festlegen, wann

ein neuer Handlungsstrang beginnen soll. In Drehbüchern gibt es klare Strukturen.

Der letzte große Turning-Point, wenn die Hauptfigur eine Erkenntnis hat, oder etwas

passiert, das die Geschichte in eine neue Richtung lenkt, liegt so gut wie immer 20

Minuten vor Ende des Films. Diese Überlegung würde gut zum eingangs zitierten

Hamlet passen. Kommt er nicht auch nach Hause nach Dänemark, um zu handeln,

um die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen?

Doch lassen wir diese Gedanken im Raum stehen.

Die Zeichnerin Tuğba Şimşek arbeitet situativ, zeichnet gern im Moment, ist draußen

in der Natur vor dem Objekt, dessen Strukturen und Formen sie faszinieren. Ihr

Material ist dann häufig der Buntstift und der Zeichenblock. Pflanzen reizen sie in

ihrer Vielfalt. Vielleicht auch in der Schwierigkeit, sie malerisch zu greifen, wenn sie

in der freien Natur nicht stillstehen, Licht und Schatten wechseln und sich

Perspektiven durch Windstöße immer wieder verändern. Denn wenn die Künstlerin

im Atelier zeichnet, erschafft sie sich künstliche „Stolpersteine“. Gerne entwickelt sie

Mal-Utensilien, die ungewohnt in der Hand liegen, schwer sind oder nicht gerade,

wie zum Beispiel ein langer Malstock mit Kreide, mit dem sie auf großen Tafeln

arbeitet. Diese bewusst gewählten Handicaps führen zu anderen Linien als sie sonst

mit leichter Hand entstünden. Das ist gewollt. Zu dem Können der Zeichnerin addiert

sich im Schaffensprozess eine weitere Ebene. Das Unbewusste, die Fähigkeiten von

sonst für diese Tätigkeit nicht genutzten Teilen der Muskulatur von Hand oder Arm

spielen plötzlich für die Entstehung der Zeichnung eine Rolle.

Dadurch ergeben sich für die Künstlerin auch unerwartete Ergebnisse, die in ihrer

Eigenständigkeit eine ganz andere Akzeptanz einfordern als es ein geplantes und

genau so umgesetztes Bild täte.

Die Suche nach dem Unmittelbaren in der Kunst, dem Unterbewusstsein, der

Spontaneität hat Künstler im Laufe der Zeit immer wieder beschäftigt, wie unter

anderem in den 1920er Jahren die Gruppe der Surrealisten um Max Ernst in Paris

oder in den 50er Jahren des selben Jahrhunderts in den USA Jackson Pollock, der mit

seinem Action-Painting neue Maßstäbe setzte.

Tuğba Şimşek hat ihren ganz eigenen Ansatz, wenn sie an ihren Blindzeichnungen

arbeitet. Dabei ruht ihr Auge auf dem Motiv, die Hand arbeitet auf dem Blatt. Erst

nach dem Beenden des Zeichenprozesses schaut sie auf das entstandene Kunstwerk.

So erarbeitet sie ganz konsequent Serien von Bildern.

Mir stellt sich die Frage, ob sich ein Malen in dieser Form vervollkommnen lassen

kann, ob sich über die Jahre eine Erfahrung einstellt, die auch bei neuen Motiven

perfektere Bilder entstehen lässt. Es gab und gibt erblindete Maler, die ihre

Hauptmotive nach wie vor zeichnen können. Aber gibt es auch einen Lernprozess im

Gehirn, wenn die Augen die Arbeit der Hand nicht begleiten? Und widerspricht das

dann dem ursprünglichen Ansatz? Vielleicht erfahren wir es in ein paar Jahren, wenn

wir den Werdegang der Künstlerin weiter verfolgen.

Diese Blindzeichnungen entstehen, ohne im Vorgang des Entstehens von Tuğba

Şimşek visuell wahrgenommen zu werden. Andere ihrer Kunstwerke sieht sie beim

Erschaffen, sie sind aber für alle Sehenden nur für eine bestimmte Zeit wahrnehmbar,

sind vergänglich, wie ihre Werke, die mit Kreide auf Tafellack gearbeitet werden.

Im Fall der Uhren, die wir hier sehen, geradezu ein Wortspiel: Sie zeigen eine

bestimmte Zeit, die nur eine gewisse Zeit zu sehen sein wird.

Nämlich so lange bis Tuğba Şimşek die Kreide abwischt und durch neue Striche und

damit eine neue Uhrzeit ersetzt. Die Bilder, die auf ihren mit Tafellack überzogenen

Malgründen entstehen, sind alle flüchtig. Sie sind nur vorübergehend da, werden

gesehen, ausgestellt und durch das Wegwischen ausgelöscht.

Schultafeln zu assoziieren liegt auf der Hand.

Und es gibt natürlich Schultafeln in der Kunst:

Zum Beispiel richtete Joseph Beuys im Jahr 1984 seine Installation »Das Kapital

Raum 1970–1977« in den Hallen für neue Kunst Schaffhausen ein. Sie umfasst

insgesamt 50 mit Kreide beschriebene Schultafeln sowie 30 Objekte, die auf einer

Bodenfläche von 118 Quadratmetern weiträumig angeordnet sind.

Und u. a. schuf der deutsche Konstruktivist Herrmann Glöckner 1981 sein Werk

„Kreideschwünge auf Schultafel“, das heute in den staatlichen Kunstsammlungen in

Dresden hängt.

Diese Werke sind aber auf Dauer angelegt, arbeiten mit dem gleichen Element,

während sie vollkommen unterschiedliche künstlerische Ansätze verfolgen.

Und hier bei uns: Tuğba Şimşeks Kreide-Zeichnungen auf Tafellack, die eindeutig

mit Vergänglichkeit arbeiten, mit der Frage des Erinnerns, der Zeit.

Sie orientieren sich originärer an dem Gebrauch von Schultafeln.

Auf letzteren wird das Wichtigste aus dem Unterricht notiert und dann doch am Ende

der Stunde wieder entfernt. Sind Tuğba Şimşeks Bilder so wichtig wie die

mathematischen Formeln und die geschichtlichen Daten? Oder sind sie es gerade

nicht – ist alles gleich unwichtig?

Ist es das Wunschdenken, dass wir alles halten können, alles unter Kontrolle haben,

gegen das die Künstlerin anarbeitet? Weist sie uns auf den Moment hin, der zählt,

nichts ist ewig – will sie uns das mit ihrer Technik nahelegen?

Aber wenn nur der Moment zählt, nur das Jetzt, warum gibt es dann diese Wisch-

Spuren auf den Werken?

Diese Spuren verweisen auf gewesene Bilder, hier in den Uhren auf gewesene

Zeitpunkte. Verschwommene Erinnerungen?

Sind diese gewesenen Bilder wirklich fort, wenn doch ein Rest auf dem Malgrund

verbleibt? Kann etwas wirklich fort sein, wenn es doch existiert hat und in unseren

Erinnerungen weiter existiert?

Eine philosophische Frage.

Wie ist es mit Bildern, die wir gesehen haben und die uns im Gedächtnis bleiben?

Besonders bei schrecklichen Anblicken, die immer in Erinnerung bleiben werden,

verwenden Autoren manchmal die Formulierung „in die Netzhaut gebrannt“. Aber ist

Erinnerung wirklich so eindeutig? Ist sie nicht vielmehr sehr subjektiv?

Spannenderweise gibt es ein Bild des berühmten Surrealisten Salvador Dalí, das die

meisten von Ihnen sicher kennen mit dem Titel „Die Beständigkeit der Erinnerung“

aus dem Jahr 1931. Es ist das Bild mit den schmelzenden Uhren.

Dass der Maler durch das Motiv der zerlaufenden Uhren die Exaktheit von

Erinnerungen in Zweifel zieht, ist eindeutig.

Uhren sind heute gleichgeschaltet, durch die Atomuhr wird die korrekte Uhrzeit

festgelegt und durch den Stand der Technik stellen sich die elektronischen Uhren von

selbst auf die richtige Zeit ein. Uhren sind objektiv, wir zweifeln sie nicht an.

Trotzdem gibt es kaum etwas Subjektiveres als den Verlauf von Zeit. Wenn

wir warten, scheint sie nicht zu vergehen, wenn wir etwas Schönes erleben, verfliegt

sie geradezu. Manche Zeitpunkte möchte man festhalten, an anderen scheint vor

Schreck die Zeit stillzustehen. Tuğba Şimşek begann Uhren zu zeichnen, als sie

während des Corona-Lockdowns in einem Bahnhof festsaß. Ihre anfänglich bereits

erwähnte Faszination für Uhrzeiten brach sich Bahn. Vielleicht in Kombination mit

einer Erinnerung, die sie dort wieder beschäftigte. Am 19.2.2020, als in Hanau der

grausame Anschlag verübt wurde, saß sie auf dem selben Bahnhof, nämlich genau

dort. In Hanau.

Momente, die man nicht festhalten möchte, die man aber vielleicht, unbewusst,

festhalten muss? „The time is out of joint...“ „Die Zeit ist aus den Fugen...“

Vielleicht weist eine der Uhrzeiten auch darauf hin.

Die von der Künstlerin gewählte Technik scheint dafür optimal gewählt.

Mich fasziniert an Tuğba Şimşeks Werk besonders die Entscheidung, die

entstandenen Kunstwerke wieder zu entfernen. Die Bilder unserer Erinnerung zu

überlassen.

Es ist in vielen wissenschaftlichen Forschungen bewiesen worden, wie

unterschiedlich die gleiche Situation von verschiedenen Menschen wahrgenommen

wird. Und auch, dass die Erinnerung eines Menschen, ein bestimmtes Ereignis oder

ein bestimmtes Objekt, wie ein Bild, betreffend, sich im Laufe der Zeit verändert.

Wenn es nun möglich wäre, alle diese möglichen Erinnerungsbilder auf Papier zu

bannen, hätten wir plötzlich eine Vielzahl an Bildern und nicht nur das eine, das real

existiert. Und so erschaffen Künstler wie Tuğba Şimşek durch ihr Fortwischen der

Kreide nicht nur ein Bild, sondern unendlich viele.

 

 Die Zeichnerin

Ulrich Krempel

 

Tuğba Şimşek ist Zeichnerin. Bei ihr steht Zeichnung immer in Relation zu etwas Gesehenem, Erlebten; davon sprechen die Skizzenbücher, in denen sie etwa Momente ihrer Reisen festhält, Wahrgenommenes, oft in kleinen Details; dazu Ort und Zeit der Anwesenheit, des Sehens, des Festhaltens auf dem Papier. Worte und Sätze, private oder Zitate. Wir, die Betrachter, werden Zeugen von Momenten eines wirklichen Lebens, eines Handelns, das außerhalb der digitalen Welt stattfindet und hier und jetzt sichtbare und berührbare Ergebnisse produziert.

 

Die Künstlerin arbeitet mit traditionellen Materialien und in traditionellen Medien: mit dem Stift auf Papier, mit dem Edding auf der Radierplatte, mit der Kreide auf der grundierten Tafelfläche. Das analoge Arbeiten feiert den Moment des Sehens, der spontanen Notiz, der Reaktion auf dem Blatt oder Block in der Hand. Die Zeichnerin notiert am Ort des Sehens, in situ, fühlt sich hier freier im Handeln als im Atelier. Oft steht sie vor den Dingen, die sie auf das Papier bringt, in kleinem, überschaubaren Format der Zeichnung.

 

Die Kraft dieser Zeichnungen liegt in ihrer Spontaneität, der Gefasstheit der Linien auf dem Blatt, dem Risiko auch des Scheiterns. Die Künstlerin selbst ist ihre erste Betrachterin: manche Zeichnung , verworfen nach der Prüfung, wird weiter überarbeitet, bis sie stimmig ist. Oder das Blatt wird gewendet, und auf der Rückseite entsteht eine neue Zeichnung.

 

Tuğba Şimşek arbeitet auch in anderen Medien, der Skulptur oder der Installation. In der Zeichnung indes ist äußerste Konzentration auf das kleine Format zu erleben, in dem die Elemente entstehen, die sich in ihren großen zeichnerischen Wandarbeiten wiederfinden können. So etwa in den beiden Wänden in Wolfsburg, auf denen sich die Figur eines Dackels in serieller Reihung findet, die Schnauzen der vielen Tiere einander zugewandt oder das vordere Tier beschnuppernd. Ein ironisches Moment blitzt da auf, wo des Deutschen Lieblingstier so ganz zum ornamentalen Element wird. Gelegentlich aber wird ein wichtiges Blatt auch im großen Format wiederholt, von der Skizze in die große Lösung überführt; auch hier spontane Entscheidungen, etwa in der Vorbereitung einer Ausstellung, in der die großen Wände vor Ort mit der Hand realisiert werden.

 

Tebeşir ist das türkische Wort für Kreide. Die großen Wandarbeiten sind ganz mit diesem flüchtigen Material realisiert; nach der Ausstellung wischt die Künstlerin ihre großen Formate einfach von der Wand. Radikal wird die Zeitlichkeit und Gefährdung der Notate deutlich, wo sie in einem so fragilen Medium realisiert werden. Uns mögen Erinnerungen an Lehrsituationen der Kindheit oder an die Kreidenotate auf Tafeln eines Rudolf Steiner oder eines Joseph Beuys in den Sinn kommen; diese Arbeiten hier sind indes radikal auf das hier und jetzt bezogen, wenden sich schweigend an ihre BetrachterInnen. Und so, wie diese den Ort der Kunst wieder verlassen, werden auch diese großen Bilder wieder verschwinden.

 

Die Ausstellung ruht. Wie viele andere ist sie in dieser Zeit der viralen Infektionen nicht eröffnet worden. Und der zweite Teil der Ausstellung in Wolfsburg ist noch nicht realisiert: das große Kunstschaufenster des Hallenbades ist noch leer. Was könnte da entstehen, wie die Ausstellung in der Jungen Kunst weiterführen oder konterkarieren? Die Künstlerin schreibt mir „ins Schaufenster sollte das Tapetenmuster“, die Vielfalt der Dackel in großer Breite. Und dazu einen von zwei Sätzen von Martin Luther King, die die Zeichnerin lange beschäftigen. Der eine: „Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.“

 

Auf der Einladung zur Ausstellung prangt ein Wolfskopf in Aquatinta, ein Blatt als Dedikation an die Stadt dieser Ausstellung. Da fügt sich der andere Satz von Martin Luther King an: „It is always the right time to do the right thing.“ Wir alle hoffen darauf, dass die große Wand mit diesem Satz noch realisiert werden kann; der moralische Rigorismus des amerikanischen Bürgerrechtlers ist in dieser Zeit der schwindenden Sicherheiten ein großes Geschenk. Bleibt zu hoffen, dass seine Botschaft im großen Schaufenster der Tuğba Şimşek noch öffentlich werden kann.

 

 

Künstlerisches Schaffen

Nele Kaczmarek

 

„Thus we cover the universe with drawings we have lived. These drawings need not to be exact. They only need to be tonalized on the mood of our inner space.“ ¹ 

Tuğba Şimşek reist viel. Zuletzt hat sie Bogotá, Kolumbien und Istanbul, Adıyaman, Diyarbakir und Uşak in der Türkei besucht. Auch in Frankfurt und Braunschweig hat sie einige Tage verbracht. Während dieser Zeit sind eine Reihe neuer Zeichnungen und Druckgrafiken entstanden, die den Kern der Ausstellung Drawing Lines bilden. Noch vor Betreten der Ausstellung werden diese von einer aktualisierten Version der Arbeit Rabenfeder, Türkischmohn und Perlhuhn, 2015/20 gerahmt, in der das Motiv der Künstlerin als Vagantin eingeführt wird. 

Tuğba Şimşek ist immer in Bewegung. Mit einem aufmerksamen, möglichst unbedarften Blick streift sie durch die Umgebung und scannt den Strom vorbeiziehender

(Stadt-)Landschaften, Passanten, Architekturen und Schriftzüge. Auffälliges und scheinbar Randständiges, Bild- und Textfragmente werden mit dem gleichen Ernst registriert, aufgelesen und verarbeitet. Die Komplexität und Vielstimmigkeit des urbanen Raums, die Gleichzeitigkeit verblühender Sträucher, hupender Taxis oder ornamentaler Verzierungen von Gebäuden – Farben, Formen, Geräusche und Gerüche – verdichtet sie in wenigen schnell gesetzten Strichen auf Papier. Manchmal schälen sich aus den Linien klar identifizierbare Konturen heraus, an anderer Stelle verlieren sie sich im Schemenhaften, Ungefähren. Getestet werden die Grenzen bildnerischer Repräsentation: Wie weit lassen sich Verfahren formaler Reduktion ausreizen, ohne die symbolische Verweisfunktion, die Zeichenhaftigkeit der Zeichnungen zu gefährden? Welche (imaginierten) Bedeutungen werden den integrierten spanischen und türkischen Worten zugewiesen? Und welche Klänge und Stimmungen (re-)produzieren sie? Tuğba Şimşek verfolgt eine im Konkreten ortsbezogene, doch gleichzeitig nomadische künstlerische Praxis, die regelmäßiger Wechsel der Umgebung bedarf. Eine Arbeitsweise, in der Studio oder feste Produktionsstätten nicht länger notwendig sind, da eine hohe Unmittelbarkeit, eine direkte Verarbeitung des Erfahrenen und Gesehenen angestrebt wird. „Places for me is the locus of desire“.² Orte des öffentlichen Raums zeigen sich in Tuğba Şimşeks Arbeiten als flirrende Beziehungsgefüge heterogener Entitäten. Körper, Architekturen und Stimmungen scheinen nur für den Moment in einer möglichen Form gebannt. Diese Spuren der Stadt werden um persönlichen Erinnerungen angereichert: Gezeigt wird eine durch die subjektive Erfahrung vermittelte Realität. Ganz selbstverständlich verschmelzen im Akt des Zeichnens Elemente von Außen- und psychischem Innenraum. Tuğba Şimşek spricht eher durch die Stadt als über sie. Begleitet wird sie dabei von einem Rudel dunkler, stumm auf dem Boden kauernder Wesen oder herumstreunender Chimären, die nicht ganz Hund, Katze oder Vogel sein wollen. „Where to stick the present, as it quickly becomes past, within the messy city of the mind?“³ Eher noch als Fotografien, vermögen Zeichnungen die Widersprüche gelebter Erfahrungen und emotionale Intensitäten einzufangen. Deutlich äußert sich in Tuğba Şimşeks Arbeiten das beinahe nostalgische Verlangen Erlebtes zu konservieren und Erinnerungen zu verstetigen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, Tuğba Şimşeks Skizzenbüchern, folgen ihre neuen Blätter keiner festen Chronologie mehr, als Erinnerungsfragmente lassen sie sich zu immer neuen Konstellationen verbinden. Sie scheinen wie lose Blätter eines Reisetagebuchs, sind dabei aber nicht ausschließlich introspektiv angelegt: Besonders in Verbindung mit den eingelassenen Worten – die vage Rückschlüsse auf den Entstehungsort ermöglichen – scheinen die Betrachter_innen angesprochen und zum Austausch angeregt. Schon länger arbeitet Tuğba Şimşek zudem an Verfahren, um dem Unbewussten mehr Raum in ihrem künstlerischen Ausdruck zu geben. Das Zeichnen ist in Tuğba Şimşeks Alltag als eine kontinuierliche und beinahe performativ-körperbetonte Praxis etabliert, sodass internalisierte Bewegungsmuster intuitiv abgerufen werden können. Auch die verwendeten Farben werden eher beiläufig gewählt. In der Arbeit mit dem beschichteten Kratzpapier – im Gegensatz zur konventionellen Zeichnung interessanterweise eine subtrahierende, Material entfernende Prozedur – sind die freigelegten Farben sogar gänzlich unkontrollierbar. Das en passant ins Bewusstsein tretende wird als Bestandteil der künstlerischen Aussage akzeptiert und eine zufallsbedingte Form der Erkenntnis forciert. Dabei variieren die Bildsujets von Arbeit zu Arbeit zum Teil deutlich – Ausnahme bildet lediglich eine Serie von Zeichnungen, in denen wellenförmige Linien die Gischt von Wellen, oder aber die Konturen von Wolken andeuten. Motive über die Rosalind Krauss in Das optisch Unbewusste schreibt: „Die See und der Himmel stehen für eine Art der Verpackung ‚der Welt’ als ganzheitlichem Bild, als ein Feld, das von der Logik seines eigenen Rahmens konstituiert wird.“⁴

 

 

 

 

¹ Bachelard, Gaston: The Poetics of Space. The Classic Look at How We Experience Intimate Places. New York, 1964, S. 11. 

² Lippard, Lucy: The lure of the local, New York, 1997, S. 4.

³ Graf, Josephine: Live in Your Head. In: Texte zur Kunst, 2019

⁴ Krauss, Rosalind: Das optisch Unbewusste. Hamburg, 2011 (engl. Erstausgabe Cambridge, 1993) S.29.

Im Kreidekreis der Karawane

Thomas Becker

 

Eine Karawane, gezeichnet mit Kreide auf eine mit Tafellack überzogene großflächige Wand als Kunst? Schiefertafeln werden meist verwendet für das Tagesgeschäft der Schulen oder in Restaurants. Sie werden als Veranschaulichung von geometrischen Darstellungen und mathematischen Formeln verwendet – zum Erlernen abstrakter Logik, oder mittels Schrift zur stichwortartigen Versicherung des zu erlernenden Stoffs. Die Tafel wird in der Schule stündlich im Takt des Unterrichts gesäubert und neu beschrieben. Spuren der vorherigen Stunde sind unerwünscht, es geht um die Klarheit der rationalen Darstellung. Cafes und Restaurants bedienen sich der Tafel, um Sonderangebote und sich verändernde Preise aktualisieren zu können. Sie reagieren auf den flüchtigen Strom der Abnehmer in der Großstadt als eyecatcher. In alten Hollywoodfilmen dient die Tafel zur Darstellung ständig sich ändernder Wetteinsätze in der heißen Phase eines unerwarteten Umschwungs. Ästhetische Gesichtspunkte kommen nie oder allenfalls am Rande dabei zum Tragen. Das einzige, was Tuğba Şimşeks Kreidearbeiten, die eben keineswegs nur Zeichnungen sind, mit diesem Gebrauch der Kreide auf Tafel verbindet, ist die schnelle Produktion, die aber bei ihr keinesfalls auf einen flüchtigen Strom der Betrachter aus ist, sondern eines stream of consciousness der Produzentin. Ansonsten: Keine Schrift, keine Geometrie und abstrakte Logik, keine Tabellen, dafür sind Verwischungen und diffuse Formen erlaubt. Die Benutzung der Tafel wird hier als Medium von Kunst so genutzt, wie wir es im Alltag gerade nicht kennen: Weder als Träger von legitimen Wissen noch als Träger von Information in Form linguistischer Zeichen oder Zahlentabellen. Tuğba Şimşek arbeitet in die nassen Verwischungen von noch vorher existierenden Arbeiten in raschem Tempo hinein. Das Verwischen der Spuren von zuvor produzierten Arbeiten erbringt neue Spuren, die, noch während die Verwischungen nass sind, neue Assoziationen hervorrufen, um sie in scharfen Konturen einer Kreidezeichnung erneut Gestalt annehmen zu lassen: Tachismus trifft auf eine neue Art des al fresco.

Tuğba Şimşek arbeitet somit gegen die Verbindung von Logik, Bedeutungsfixierung und Idealisierung im Wechselrhythmus von Auge und Hand, wenn sie in z.B. in ihren graphischen Zeichnungen auf Papier Blindzeichnungen herstellt, indem sie nicht diesem Rhythmus folgt, den schon Leonardo da Vinci im 15. Jahrhundert für den disegno forderte, um der idealen Logik der Natur auf die Spur zu kommen. Während Tuğba Şimşek jedoch zeichnet, setzt sie den Blick nicht vom Gegenstand ab, um dem Auge beim Zeichnen nicht die Kontrolle über die Hand zu überlassen. So behauptete Buffon im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Vernunftaufklärung, der Mensch sei aufgrund des Zusammenhangs von Auge und Hand das rationale Wesen, das sich vom Tier unterscheidet. Aber bei Tuğba Şimşek geht es gerade nicht um die Logik der Idealisierung, oder Veranschaulichung abstrakter Logik durch Zeichnung oder rationale Kontrolle, sondern um den Blick von Innen, der schon immer als Filter auf den Augen lastet und keineswegs nur von einem solchen Sehen bestimmt ist, welche im Hand-Auge-Wechselrhythmus die Kontrolle über die Repräsentation der inneren und äußeren Natur gewinnen will. Dieser langen, rationalistischen Tradition der abendländischen Abwertung von flüchtigen und unkontrollierbaren Eindrücken im Namen der stabilen Subjektivität, welche Natur als ebenso beständiges und verfügbares Gegenüber als Objekt zu konzipieren versucht, arbeitet Tuğba Şimşek auch in der Technik ihrer Kreidearbeiten entgegen. Die Zeichnungs- und Verwischungstechniken zielen mit den schnell in die noch nassen Verwischungen eingearbeiteten Kreidezeichnungen zwar auf eine Erfassung von Assoziationsanreizen während der Arbeit, die hier als Momentaufnahme einer vorbeiziehenden Karawane erscheint, aber es ist eine Karawane, die aus unkontrollierten Verwischungen der Assoziationen entsteht und jederzeit wieder verschwinden kann und damit einer endgültigen Fixierung Widerstand leistet: Ein ‚Schon‘, ein ‚Noch‘, ein ‚Nicht-Mehr‘ in der Verkörperlichung der assoziativen Innenwelt: eine Art ‚rite de passage‘ der Innen- in die Außenwelt, die auch wieder in die Innenwelt zurückkehren kann, insofern sie wieder verwischt wird und als Erinnerungseindruck nachklingt: Wir sehen einen Wagen mit einem Gespann von drei pferdeartigen Zugtieren – es könnten mehr sein. Die Anordnung der Tiere entspricht nicht der Logik eines Gespanns. Die menschlichen Personen wirken eher geisterhaft wie in einem Sandsturm schemenhaft erahnbar, während bestimmte Gegenstände wie Räder, Leinen, Sattelzeug und die Zugtiere scharf vor den Konturen der Verwischungen hervortreten. Das Thema des Bildes selbst reflektiert die Entstehungsweise der schnellen Produktion durch Verwischungen, die zu vorbeifliegenden Assoziationen in den konturierenden Kreidezeichnungen animieren, ohne der rationalen Kontrolle zu unterliegen.

Selbstverständlich sichert eine Fotografie die Arbeit, bevor sie verschwindet, damit wir über sie reden und nachdenken können. Aber wenn die Tafel wieder gesäubert wird – dann haben wir eine zusätzliche Assoziation in unsere Wahrnehmung eingegraben, die verändert nachklingen wird wie die Verwischungen auf der Tafel - was uns die Fotografie allzu leicht und schnell vergessen lässt, weil kein Bild nur ein Bild ist, sondern selbst schon die Interpretation eines Bildes. Bild auf Bild ist schon das Thema der Karawane, wo die diffusen Wischspuren wie nachklingende Erinnerungsspuren auf scharf konturierende Details gegenwärtiger Wahrnehmung treffen, die jedoch bald selbst im Sandsturm der Erinnerung absinken werden: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Tafel bleibt das Medium der Assoziation, die zwischen Dauer und Moment stets zu changieren vermag, sie ist keine Cloud, keine Büchse, in der die Bilder gesammelt werden, auch wenn die Kreidearbeiten der Fotografie bedürfen, um im universe of discourse zu existieren. Und sie dauern indes auch länger als nur im Moment der Entstehung, aber sie indizieren auch schon ihr Vergehen. Keine Logik der Repräsentation, aber auch keine Logik der Abstraktion, ein ‚Dazwischen‘, deren Potenz Tuğba Şimşek im Medium der Schiefertafel mit ihrer Kunst erst entdeckt hat, um gegen die uns in Schule und Alltag eingeübte rationalisierte Wahrnehmung spielerischen Widerstand zu leisten, wo allein Präsenz, Logik und seriöse Legitimität eine Rolle spielen.

Kreidezeit

Annette Tietenberg

 

In der Kreidezeit müssen gewaltige Verschiebungen auf der Erde stattgefunden haben. Am Ende des Mesozoikums wechselten sich Phasen großer Hitze mit eisigen Kältewellen ab. Kontinentalplatten drifteten auseinander und kollidierten, Gebirge wie der Himalaya, die Alpen, die Anden und die Rocky Mountains türmten sich auf, Meteoriten schlugen ein, Vulkane schleuderten Lava in die Lüfte, die Polkappen schmolzen, die Wasserspiegel stiegen an und die Meere überfluteten weite Teile des Landes. Kolossale Saurier verschwanden, während anpassungsfähige Säugetiere sich allmählich ausbreiteten. Im Namen der Epoche klingt eine solche Dynamik, ja Dramatik nicht an. Die Bezeichnung Kreidezeit leitet sich vielmehr von einem geologischen Speichermedium ab, das fixierte Lebensformen zu überliefern imstande ist. Angesichts der im Kalkstein des Rheinlandes und des Pariser Beckens für immer eingeschlossenen Krebstiere, Korallen, Muscheln, Schnecken und Einzeller entschied sich der belgische Forscher Jean Baptiste Julien d’Omalius d’Halloy im Jahr 1822 dafür, dem gesamten Zeitalter entsprechend der von Fossilien durchsetzten Gesteinsformationen das lateinische Wort „Cretaceum“ anzuheften.

In Tuğba Şimşeks Zeichnungen führen mehr oder minder archaische und mythische

Kreaturen wie der Ameisenlöwe, die Hyäne, der Walfisch, der Wildesel und der

Goldregenpfeifer ein schemenhaftes, auf ihre Umrisse reduziertes Nachleben, das sich

gleichfalls dem Zeitspeicher Kreide verdankt. Statt – in Beuys’scher Tradition – in

aufklärerischer Manier Namen, Begriffe und Diagramme mit Kreide an die Tafel zu

schreiben, ruft Tuğba Şimşek mittels Kreidelinien halb vergessene Naturgeschichten und schwach nachglimmende Erinnerungen wach, ja, sie zeigt, dass selbst das Löschen von

Kreidespuren eine Spur hinterlässt. Oftmals dient ihr schwarzer Tafellack als malerischer

Grund, der sich untrennbar mit der Ausstellungswand verbindet. Darauf breitet sich eine wolkig-weiße, von Schlieren durchzogene Schicht aus verwischter Kreide aus, die wiederum ein Geflecht von mehr oder weniger willkürlich anmutenden gelben, hellblauen und rosaroten Bögen hinterfängt. Man mag diese flüchtigen und unbeständigen Zeichen, die ins Ungefähre und Ungewisse verweisen, als Reminiszenz an eine hügelige Landschaft deuten, zumal ihre Blindzeichnungen sich erklärtermaßen der Begegnung mit den sagenumwobenen Vulkanen, Geysiren und Basaltsäulen auf Island verdanken. Man mag ihr Gewordensein auf den Nachschein eines Ereignisses, auf das anwesend Gewesensein des Körpers der Künstlerin zurückführen, die mit jeder Geste ihre Erinnerungsfähigkeit herausgefordert und ihren Aktionsradius erweitert hat. Nur unterschätzen sollte man sie nicht, die Macht der Kreidezeichen, die so leicht, so suchend, so zögerlich, so vergänglich daherkommen. Wie Henri Bergson und Christine Buci-Glucksmann in ihren Schriften dargelegt haben, wohnt einer Ästhetik des Ephemeren stets die Möglichkeit inne, die geltenden Vorstellungen von einer Chronologie der Zeit zu durchbrechen, um einer fließenden, pluralen Zeit der vierten Dimension mit ihrer unvollendeten, offenen Vergangenheit und ihrer a-präsentischen Gegenwart den Vorzug zu geben. Was also, wenn die Kreidezeit gar nicht vorüber ist?

 

 Braunschweiger Bestiarium

Andreas Bee

 

Die fünf großformatigen, auf altertümlich anmutenden schultafelähnlichen Tableaus gesetzten Zeichnungen von Tuğba Şimşek scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Sie erzählen in Traumbildern von Wesen, die wir weitgehend aus unserer aufgeklärten Welt verdrängt haben. Hier werden Tiere in Szene gesetzt, die von einer zweiten Realität jenseits unserer gängigen Weltvorstellung künden. Sie stellen, da sie nun einmal auf den Bildern Form angenommen haben, die Frage nach unserem Verhältnis von Wahrheit und Illusion und schließlich nach einem tieferen Selbstverständnis: Ist das moderne Ich noch zu retten? Oder hat unser vernunftbestimmtes Leben auch die letzten kleinen Götter entthront? Wird sich unsere Wahrheitsbesessenheit möglicherweise am Ende gegen uns wenden? Ist die Illusion nicht doch ein lebensnotwendiges Elixier, das wir brauchen wie die Luft zum Atmen?

Was Tuğba Şimşek vorlegt, ist etwas, das dem Mythischen nahe steht, etwas, „bei der die Wirklichkeit an einem Charisma teilhat, ja erst von ihm her ihren Sinn und ihre Wirklichkeit empfängt.“ Vielleicht denkt der Betrachter an eine „Tiersymbolik, die ihm auf romanischen Säulenkapitellen und in gotischen Tympana so verwirrend entgegentritt: fremd und doch bis zur Beunruhigung bewegend, bedeutsam, wenn auch oft schwer zu deuten, beziehungsreich und einem Vokabular vergleichbar, das er zwar nicht mehr beherrscht, von dem er aber ahnt, daß ehedem die Menschen in seinem Besitz eine Fülle von Vorverständigung und Erlebnisgemeinschaft besaßen.“

Der Text des ,Physiologus’, dem die folgenden Beschreibungen entnommen sind, stammt aus einer Zeit, die wir die Antike nennen. ‚Physiologus’, das heißt: ‚der Naturkundige’, aber die Tiere, die hier in Sprachbildern erscheinen, sind, wie die von Tuğba Şimşek gezeichneten Wesen, „so wenig ‚Tiere’ im Sinne der Biologie, wie der Stein des Weisen ein mineralogisches Faktum oder so wenig, wie das Gold des Alchimisten ein chemisches Element ist.“ Und wie der Text durch seine äußerste Verknappung vereinnahmt, so bestechen die Zeichnungen als Konturen ohne Füllung. 

 

 

Der Goldregenpfeifer

 

Der Physiologus hat über ihn gesagt, er sei ganz weiß und keinerlei Schwärze an ihm. Und sein Kot heilt die blödsichtigen Augen. Und an den königlichen Höfen ist er zu finden. Und wenn jemand krank wird, dann erkennt man mit seiner Hilfe, ob der Kranke sterben wird oder gesund werden. Man bringt ihn nämlich zu dem Kranken und setzt ihn vor diesen auf das Bett hin; ist nun die Krankheit des Menschen zum Tode, dann wendet der Regenpfeifer sein Gesicht von dem Kranken ab, und alle erkenne, daß er stirbt. Ist aber die Krankheit des Menschen zum Leben, dann schaut der Regenpfeifer unverwandt nach dem Kranken, und der Kranke nach dem Regenpfeifer, und dieser öffnet seinen Schnabel über des Menschen Mund und trinkt die Krankheit in sich hinein und fährt hoch zur Sonnen und verbrennet seine Unkraft und macht sie zunichte, und der Kranke genest.

 

 

Der Wildesel

 

Zur Zeit, da die Eselsstuten werfen, geht der Leithengst, der Vater, reihum und untersucht jedes Fohlen. Und wenn ein männliches geboren wurde, dann beißt er ihm die Hoden ab, damit es keinen Samen bekommt. Und von ihm haben auch die Perser Eunuchen machen gelernt.

 

 

Der Walfisch

 

Ist fürwahr ein Ungetüm im Meer, heißt Walfisch, der hat zwei angeborene Eigenarten.

Seine erste Eigenart ist dies: Wenn er Hunger hat, tut er seinen Mund auf und jeglicher Wohlgeruch kommt hervor aus seinem Munde. Und da treiben die kleinen Fische ihm zum Munde schwarmweise, und er schlürft sie hinab. Jedoch die großen und ausgewachsenen Fische findet er nicht, denn sie kommen ihm nicht nahe.

Seine andere Eigenart ist diese: Ganz groß ist das Ungetüm, gleich einer Insel. Aus Unkenntnis machen die Seefahrer ihre Schiffe daran fest wie an einer Insel, und die Anker und die Pflöcke, und gehen heraus wie auf eine Insel, und zünden Feuer an um ihre Speise zu kochen. Wenn es nun dem Untier heiß wird, taucht’s hinab in die Tiefe, und reißt in die Tiefe hinab das Schiff mit Mann und Maus.

 

 

Die Hyäne

 

Das Gesetz spricht: Iß nicht die Hyäne, noch was ihr gleicht. Der Physiologus hat von ihr gesagt, sie sei mannweiblich, nämlich zu Zeiten männlich, zu Zeiten weiblich. Sie ist ein beflecktes Tier wegen dieses Wechsels ihrer Art.  

 

 

Der Ameisenlöwe

 

Der Physiologus sagt, dieser habe das Anlitz eines Löwen, und das Hinterteil der Ameise. Sein Vater ist ein Fleischfresser, aber seine Mutter verzehrt Spelzen. So sie nun miteinander dem Ameisenlöwen zeugen, zeugen sie ihn als ein Wesen zweierlei Art; und er kann nicht Fleisch fressen wegen der Art seiner Mutter, und nicht Spelzen wegen der Art seines Vaters. So geht er nun zugrunde darum, daß er keine Nahrung hat.

 

 

Sämtliche Zitate stammen aus der Textübertragung und dem Nachwort von Otto Seel: Der Physiologus, Zürich und München, Artemis Verlag, vierte Auflage 1983